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Der Domherr, der Archivar und ich
Tagebuchnotizen von Andreas Neumann-Nochten

Aus meiner Vorliebe für alte Häuser habe ich nie einen Hehl gemacht und nie den Reiz verleugnet, den die architektonischen Zeugnisse unserer Vorfahren auf mich ausüben. Weit davon entfernt, an bettlakenschwingende Gespenster und ruhelos umherwandernde Seelen zu glauben, bin ich doch der Überzeugung, dass gerade die alten Häuser, die noch keiner sterilisierenden Gesamtsanierung unterzogen wurden, den Geist des Lebens, Liebens und Wirkens vergangener Generationen in besonderer Weise atmen - den Geist, der Geschichten erzählt und Geschichte erlebbar macht.
Die nachfolgenden Zeilen berichten von einem Erlebnis, das nun schon 14 Jahre zurückliegt und doch in seiner Fülle der Aufarbeitung bedarf. Dabei soll dieser Bericht erst ein Anfang sein, an dessen Ende vielleicht einmal eine genauere Dokumentation dessen steht, was der Stadt Naumburg vor Zeiten verlorenging.

In der Georgenstraße, zwischen dem Kutscherhaus der Ägidienkurie und den Eckgebäuden zur Georgenmauer hin, stand bis Mitte der 80er Jahre ein Gebäudekomplex, der manchem Naumburger noch als "Reinhardtsches Anwesen" in Erinnerung sein dürfte. Gartenseitig grenzte das Grundstück an den Bereich des ehemaligen katechetischen Oberseminars. Die beiden Häuser wirkten immer ein wenig gruselig in ihrem altersgrauem Verputz und der hohen ,aus Bruchstein errichteten, von keinem Fenster durchbrochenen Ostwand des Hinterhauses. An ein Betreten der Häuser war, da noch bewohnt, nicht zu denken und doch war es die Atmosphäre des Geheimnisvollen, die meinem Interesse immer wieder Auftrieb verlieh. Beflügelt wurde mein Forscherdrang durch ein Seminar zur Geschichte der Naumburger Kurien. Ich erfuhr Wissenswertes zu deren Erbauung, Umgestaltung und Anzahl. Wenn auch in veränderter Form, so sind die meisten heute noch dort zu besichtigen, wo sie errichtet wurden und auch die Standorte derer, die im Laufe der Jahrhunderte dem Verfall und Abriss anheimfielen, können immer noch eindeutig lokalisiert werden. Bis auf eine, die "curia praepositura ad dexteram". Ein Historiker hatte in den 20er Jahren eine Karte mit den Standorten sämtlicher Kurien erstellt und gemäß dem Stand seiner Forschungsarbeit die oben genannte Kurie just auf dem "Reinhardtschen Grundstück" platziert, was aufgrund des Namens "... vorgelagert zur Rechten" (des Gebietes der Domfreiheit) durchaus schlüssig erscheint.

Eines Tages nun musste der alte Herr, der letzte Nachkomme der Familie Reinhardt, ob der Baufälligkeit seiner Behausung, das Feld räumen. Zeitgleich verdichteten sich die Gerüchte, dass das gesamte Areal zum Abriss freigegeben worden sei, um zur Verbesserung der Lebensqualität der arbeitenden Bevölkerung Platz für Eigenheime zu gewinnen. Nichts hielt mich mehr. Einzubrechen brauchte ich nicht, das hatten die, dem Auszug des letzten Bewohners auf dem Fuße folgenden Fledderer, längst erledigt. Der Hilfe des Stadtarchivars hatte ich mich mit meiner abstrusen Hypothese, die fehlende Kurie entdeckt zu haben, bereits gesichert. Was wir vorfanden, gab meiner Vermutung neue Nahrung. Das massive Untergeschoss des Hinterhauses wies feingearbeitete, auf das 15. Jahrhundert zu datierende Fensterlaibungen und Türstürze auf. Durch einen kleinen gotischen Spitzbogen hindurch und eine gewundene Treppe hinab, betrat man ein romanisches Tonnengewölbe von geradezu gigantischem Ausmaß. Im Erdgeschoss fanden wir, mit unaussprechlichen Werkzeugen freigelegt, einen Kamin mit spätmittelalterlichem Gewände, dessen Größe ausgereicht hätte, einen Ochsen zu garen. Mit meinen laienhaften Fähigkeiten versuchte ich alles zeichnerisch und fotografisch zu dokumentieren. Mein Problem heute ist, diese Akte in meinem Wust von Unterlagen erst wieder neu entdecken zu müssen.
Was alles unternommen wurde, um den Abriss - wenn schon nicht zu verhindern - so doch wenigstens zu verzögern, entzieht sich meiner Erinnerung. Jedenfalls ging dann alles sehr schnell. Die russischen Freunde, die sich als unfähig erwiesen, ihr Terrain auf der anderen Straßenseite mit einer haltbaren Mauer zu versehen (das handgestrickte Mauerwerk neigte sich schon bei halber Höhe bedenklich straßenwärts), wurden beauftragt mit der ihnen eigenen Technik für den Abriss zu sorgen. Die Stadt übernahm im Gegenzug die Errichtung der heute noch zu besichtigenden Mauer.

Das höhere (Des)Interesse fügte es zu guter Letzt, dass an dem Tag und in dem Augenblick, da es uns gelungen war, den höchsten Repräsentanten des Domkapitels in die Keller der Georgenstraße 3 zu entführen, von uns unbemerkt eine Kompanie Russen das Dach des Hauses bestieg und mit dem Abriss begann. Uns blieb nur, das Hasenpanier und die Flucht zu ergreifen, voran der Domherr, wir hinterher, unter lautem Geschrei, um den Lärm der herabprasselnden Dachziegel zu übertönen.

In den Tagen darauf ging mit Macht und Gewalt der Abriss vonstatten. Nur eine Genugtuung wurde mir zuteil. Sooft der russische Räumpanzer auch Anlauf nahm, sooft blieb er in den Trümmern stecken, gerade so, als ob sich der Geist der Jahrhunderte, der in allem ruhte, nun erwacht sich gegen das an ihm vollzogene Unrecht wehrte.